Vom 8. September bis 2. Dezember 2012 war ich als Volontärin bei Asante in Tiwi tätig. Christine Rottland traf ich einige Monate vorher in Deutschland, um meinen Einsatz zu besprechen. Wir einigten uns darauf, dass ich administrativ helfen und an der Waisenschule Kristina-Academy eine Theaterinszenierung machen sollte.
Was konnte ich als Theaterstück planen, ohne die Kinder und ihre Situation zu kennen? Ich war bisher nie in Afrika gewesen. Wie würde ich den Kindern vermitteln können, was „Theater“ ist? Ich hatte keine Vorstellung, wie die Armut hier – und besonders für die Waisenkinder – das Leben bestimmt. Es sollte – hier ein erster Theaterversuch – einfach und fröhlich sein. Schon länger beschäftigte mich das reizende Kinderbuch von Helme Heine „Das schönste Ei der Welt“: ein paar Hühner fragen den König, wer die Schönste sei. Der König meint, es komme auf die inneren Werte an, wer das beste Ei lege?… Die Hühner legen skurrile Eier – eines ist würfelförmig!…- Ich machte mich daran, das Buch ins Englische zu übersetzen, geriet ins Reimen, und wollte dann auch einen Ortsbezug herstellen und die Situation der Waisenkinder bedenken. Daraus wurde dann „The Tiwi Egg Contest“.
Der Hühnerprinz, ein Waisenkind, soll den Thron besteigen und fragt seine Hofherren, wie er eine schöne und geistreiche Frau finden kann, die ihm zur Seite steht. Die Hofherren schlagen überzeugend vor: wir machen einen Wettbewerb im Eierlegen. Die Hühner tanzen an, und jedes legt ein so besonderes Ei, dass der König völlig ratlos ist, welches Huhn er nun wählen soll. Auch die Hofherren sind überfordert, ihn gut zu beraten. Der Hühnerprinz, verzweifelt, will durch das Los entscheiden, als sich die konkurrierenden Hühner zusammentun und ihre kreative Vielfalt als gleichwertig herausschreien. Der Hühnerprinz ist begeistert: er entscheidet sich für alle fünf Hühner, die ihn und seinen Hof beleben sollen.
Das Stück will nicht belehren und bietet wahrlich keine geistig schwere Fracht! Zur hohen Zeit der Plagiatsvorwürfe kann ich mich auch mit der Wiederaufnahme des lustigen Legewettbewerbs in die Reihe der Plagiatoren einreihen. Aber die Vision der Kostüme und die Frage der Machbarkeit bestärkten mich, es mit diesem Stück zu versuchen. Mein Ziel war: die Kinder charakterlichen Ausdruck finden zu lassen, durch die Wahrnehmung der jeweiligen Rolle das Gemeinschaftsgefühl zu stärken, ihnen Freude und Leichtigkeit durch das „Verkleiden“ und das freie Spiel zu schenken und schließlich ihr stark afrikanisch geprägtes Englisch „englischer“ werden zu lassen.
Mit Klasse 3 Kristina-Academy (die Schüler sind zwischen 7 und 12 Jahre alt) und ihrem Lehrer Mr Jacob machte ich erste Lockerungs- und Konzentrationsübungen, einfache mimische Übungen folgten. Dann erarbeiteten wir den für die Schüler sprachlich nicht ganz einfachen Text. Hier und während der ganzen Erarbeitung des Stückes war Mr Jacob ein umsichtiger und pädagogisch kluger Assistent!
Wir machten ein “Casting“, in dem die Bewerber geradezu professionell und gnadenlos um ihre Rollen konkurrieren mussten. Binnen zwei Tagen hatten die ausgewählten Schauspieler den gesamten Text auswendig gelernt. Nur konnte ich kaum etwas verstehen! Aber die phonetischen Korrekturen nahmen die Schüler erstaunlich schnell auf. Schwieriger wurde es, den Rollen charakterlichen Ausdruck zu verleihen und gerade auch während der Phasen, in denen nicht gesprochen wurde, in der Rolle zu bleiben… Die Kinder hier kennen es kaum, ihre individuelle Meinung zu äußern, geschweige sich kreativ und lustvoll in den Vordergrund zu spielen. Ihr Aktions- und Erfahrungshorizont ist allein aufgrund ihrer Armut äußerst eng angelegt. Die Aufforderung, nicht nur den eigenen Text zu beherrschen, sondern durch das eigene Spiel auch den anderen Mitspielenden eine Hand zu reichen, war eine enorme Hürde für alle. Immer wieder boten die Kinder ganz reizende Momente beim Spiel, die einfach spontan kamen. Aber es war schwer, ihnen trotz allen Lobes beizubringen, diese kostbaren kleinen Momente beizubehalten oder in den Proben immer wieder neu zu produzieren. Der Drang, den Text einfach abzuspulen, entpuppte sich leider als sehr stark. Andererseits fanden einige Kinder ganz individuelle, kraftvolle Ausdrucksphasen. Ein zwölfjähriges Mädchen mimte den Sprecher, der zwischen Hühnern und Publikum vermittelt, und bewies eine erstaunliche Souveränität im Spiel! – Ein Motivationsschub ging von den Kostümen aus, die ich – sehr einfach – zusammen mit der warmherzigen und verständigen Mama Mwynyi nähte, die die Schuluniformen für Asante herstellt.
Schließlich wurde eine Bühnen-Konstruktion vom Schreiner Ali Tunza gefertigt, in die wir eine Gardinenstange hängen konnten. Kräftig blau wie der Himmel war der Vorhang als Bühnenhintergrund. Zwei aufeinandergelegte Autoreifen, die mit rotem Stoff und einer goldenen Kordel umlegt waren, stellten den Thron dar. – Um auch die restlichen Schüler der Klasse einzubeziehen, schnitten wir aus gelbem Karton große Buchstaben für den Titel aus, und diese Kinder kündigten so ihre Mitschüler und ihr Spiel an.
Zur Feier der Graduation am 7. November wurde das Stück aufgeführt. Viele zauberhafte Momente, die ich gern mehr ausgespielt gesehen hätte, gingen verloren, aber das Publikum (Kinder, Lehrer, Mütter, Gäste) reagierte lebendig und wohltuend erfreut.
Mit der parallelen Klasse 3 der Redeemed Academy erarbeitete ich die Geschichte „The Gruffalo“ von Julia Donaldson. Hier trickst eine Maus mit List und Höflichkeit Tiere aus, die für sie gefährlich sind.
Auch in dieser Klasse war der Text unglaublich schnell auswendig gelernt. Aber auch hier musste die Aussprache und der dramatische Ausdruck im Sprechen fleißig geübt werden. Und auch hier wurden konsequent die besten Sprecher herausgefiltert. Zusammen mit Mr Asoka, dem Klassenlehrer, hatten wir uns darauf geeinigt, dass wir die Geschichte als Puppentheater aufführen wollten. (In diesem Fall wären ein kostümiertes Spiel oder textile, bewegliche Handpuppen zu kompliziert gewesen.) Aus Sorge um die kleinen Hände schnitt ich die Figuren aus starkem Karton selbst aus, und die Schüler malten sie äußerst gelungen an. Auf Holzstäbe geklebt waren die Puppen einfach zu handhaben. Das sekundengenaue Zeigen der Figuren in richtiger Position war jedoch eine erhebliche Konzentrationsübung! Zwei Kinder wurden als Assistenten zum Anreichen der Puppen hinter der Bühne gewählt. Auch die Hilfsrolle sollte in ihrer Wichtigkeit für das gesamte Gelingen von allen Schülern wahrgenommen werden. Die Kinder haben es toll gemeistert! Wir haben die Geschichte mehrmals vor anderen Klassen aufgeführt, und ich glaube, die Schüler hatten große Freude daran.
In beiden Theaterprojekten realisierte ich, wie sehr sich das Theaterspiel als Schulung des gemeinschaftlichen Miteinanders anbietet. Gegenseitiges Mutmachen, gegenseitiges Beobachten, Erinnern, ebenso ein faires Konkurrieren und Kritisieren… all das kann im Bemühen um ein gutes Gesamtgelingen erfahren werden.
Neben den Theateraktivitäten habe ich das Schreiben der Dankesbriefe an die Sponsoren betreut. Es war mir zuvor nicht klar gewesen, dass das Briefeschreiben einfach nicht in die hiesige Kultur gehört. Die logisch bewusste Anbringung von Adressat und Absender auf dem Umschlag war auch in höheren Klassen nicht vorauszusetzen. Es entspricht der materiellen Not und den kollektiven Träumen der Kinder, wenn sie so oft schreiben, dass sie für ihre Sponsoren beten, dass sie ihnen ein gutes Leben wünschen und dass sie Doktor, Lehrer oder Pilot werden wollen… Nicht alle graphischen und sprachlichen Mängel konnten ausgemerzt werden. Aber der Eifer war in vielen Fällen anrührend zu beobachten. Mögen diese Briefe die Herzen ihrer Leser erreichen!
Mit verschiedenen Klassen und ihren so zugänglichen Lehrern der Redeemed Academy habe ich zuletzt Kinderlieder in Suaheli gesammelt. Es war nicht einfach, die klare Übersetzung zu finden (ich spreche leider nicht Suaheli) und die Melodien aufzuzeichnen. Manche Lieder existieren in mehreren melodischen Fassungen. Das Singen hier ist zudem stärker vom Rhythmus als von der Melodie geprägt, so dass auch das filmische Festhalten des Gruppengesangs nicht immer eindeutige Hilfe beim Melodie-Aufzeichnen bietet. Anregend und überzeugend ist die rhythmische und mimische Bewegung der Kinder während des Singens. Dies, denke ich, ist den deutschen Kindern eher fremd. So möchte ich die Kinder in Deutschland ermuntern, eine völlig unbekannte Sprache – einfach aus Freude am Sprachklang – zu sprechen und zu singen und sich so dem Fremden zu öffnen.
Christine Rottland und dem ganzen Team von ASANTE danke ich für die freundliche Aufnahme, für die herzliche Offenheit und allseitige Unterstützung. Hier arbeitet ein wunderbares Team zusammen, das großartige Arbeit leistet. Was Armut wirklich bedeutet, mag ich nur ahnungsweise erfasst zu haben. In den meisten Fällen ohne Strom und fließend Wasser im Haus, werden die Kinder bei Asante mit Menschen aus anderen Kulturen, mit Laptops und Filmen konfrontiert, das ihnen einen hohen Spannungsbogen der Erlebnisfähigkeit abverlangt. Einmal hatte ich Gelegenheit, eine sehr arme Großmutter, die zehn Enkelkinder allein betreut, in ihrem Lehmhaus im Busch zu besuchen. Kein einziger Stuhl oder Hocker, nur ein Bettgestell bedeckt von Plastiksäcken und eine Raffiamatte, die sie selbst geflochten hatte, waren das gesamte Mobiliar. Die Großmutter strahlte eine große Würde aus. Aber wie lebt man mit dieser Aufgabe und ohne alle Mittel jeden neuen Tag? Ohne die Unterstützung von Asante, die ihr regelmäßig ein Mindestmaß an Nahrungsmitteln gewährt, bräche dieser kleine Kosmos völlig zusammen. Ich bin dankbar, dass ich diese Zeit und die vielen Bilder des Lebens hier erfahren durfte. Auch für mich war es ein hoher Spannungsbogen des Erlebens. Noch nie war ich so konkret an Armut herangeführt worden.
Anna Schlüter
Dezember 2012